Liebe Gertraud, lieber Bernd, Dem unten abgedruckten Brief, den ich pünktlich in meinem E-mailpostkasten vorfand, entnehme ich dass an jenem Zeitpunkt, web.de Euch mein am 10. Februar 2020 abgesandtes Englisch verfasstes Schreiben LETTER FROM APPALACHIA vorenthalten hatte. Sollte sich diese Unterschlagung als dauerhaft erweisen, wird Euch diese kleine Phantasie über die Himmelfahrtsfeier in Damascus VA an meinem Netzort, http://ernstjmeyer.ddns.net/Archive001/Strangfeld/index.html zugänglich sein. Ob es ein ungehöriger Vertraulichkeitsbruch sein möchte den so verhältnismäßig intimen Briefwechsel zwischen uns den anderen 3.4 Milliarden Internetbenutzern kostenlos und unbeschwerlich zugänglich zu machen, muss auch Eurem Urteil unterliegen. Unter http://ernstjmeyer.ddns.net/Archive001/Strangfeld/index.html sind die verschiedensten Briefe von und an Euch zu lesen. Ich wäre jederzeit bereit sie Euerm Wunsche gemäß zu löschen. Nehmt es mir bitte nicht übel, wenn ich darauf hinweise, dass ich bis jetzt auch nicht die geringste Andeutung habe, dass außer Euch, außer mir und außer web.de auch nur ein einziger von den 3.4 Milliarden möglichen Lesern das geringste Interesse aufweist, zu wissen was Ihr mir, und ich Euch zu sagen hatten. Sollte aber eines Tage ein unerwünschter unliebsamer Leser sich bemerkbar machen, so ist es mir möglich, da mein Netzort im Rechner womit ich diesen Brief schreibe beheimatet ist, binnen einer halben Sekunde, den Stöpsel zu ziehen und das Schrifttum eines ganzen Lebens vorübergehend oder endgültig vom Internet zu entfernen. Inzwischen ist es mir gelegen dem Rat den Lodovico Settembrini Hans Castorp am Zauberberge gab: "Placet experiri" zu folgen, und mit meinem Experiment über Veröffentlichung, mit dem ich im Juni 1992 mit dem Ablegen auf der Bettdecke in Kierspe der vier Bände meines Romans den Anfang machte, fortzufahren. Die Vorstellung von öffentlichen Geheimnissen verdanke ich Goethe: Epirrhema Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten. Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis! Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles! Kein Lebend'ges ist ein Eins, Immer ist's ein Vieles. dazu Rilkes Einsicht, "Das was geschieht hat einen solchen Vorsprung dass wir's nioe einhol'n und nie erfahren wie es wirklich aussah." (Requiem an Kalkreuth) ist eine vergleichbare Deutung der Dialektik, des Widerspruchs von Wissen und Wirklichkeit. Das Programmieren von Rechnern beruht auf der Anwesenheit eines Speichers, (random access memory, "ram"), der aus Millionen von Einzelzellen oder Orten besteht. Jede Zelle hat einen Ort und einen Inhalt. Der Ort der Zelle, deren Adresse, ist unabänderlich und ist durch eine Zahl gekennzeichnet. Der Inhalt der Zelle ist von Augenblick zu Augenblick je nach Programmbestimmung veränderlich. Ein Rechnerprogramm vermag sich lediglich darauf verlassen den abgerufenen Inhalt verschiedener durch Ortsnummern bekannter Zellen festzustellen. Ein mehr wirksames Vorgehen, aber, verschmäht es den Zelleninhalt abzurufen, sondern verlässt sich auf die Zellenadresse um sich des jeweiligen Zelleninhalts zu bedienen. Ich betrachte das Wort als eine Zellenaddresse mittels derer sich der Leser des Zelleninhalts versichert, aber, wohl bemerkt, stets nur des Inhalts der eigenen "Seelenzelle", denn die "Seelenzellen" des Anderen sind dem Leser unzugänglich: er entdeckt stets nur die Wirklichkeit des eigenen Erlebens. So etwa lautet meine Erklärung weshalb ich mein Erleben, meine Subjektivität, durch die Veröffentlichung von Worten, also von der Bekanntmachung von Zellenadressen meines Erlebens nicht bedroht fühle. Ich bitte um Eure Ansicht. Mal sehen, ob web.de kapiert, wie gefährlich diese Gedanken sind. Bleibt gesund und froh. Euer Jochen ================================================================ Subject: Dein brief vom 4.Februar Date: Wed, 12 Feb 2020 15:04:49 +0100 From: Bernd Strangfeld To: Ernstmeyer Lieber Jochen, Dein Brief ist ohne Probleme pünktlich angekommen, ich hätte schon längst antworten sollen. Die Aktivitäten von web.de finden wir schon bestürzend, hätten auch nie mit so etwas gerechnet Die müssen eine Stichwortliste haben, mit deren Hilfe sie nach Verdächtigem suchen. Das klingt eher nach Romanen über ferne Zukunft, aber in unseren Zeiten drängt sich ja das "Böse" überall hinein, und das Bekämpfen ist grundsätzlich angebracht, finde ich - das ist sehr allgemein , und in unserem praktischen Fall ist es lachhaft, und dies Gefühl, in seinem höchst privaten Bereich beobachtet und zensiert zu werden, führt zu Greusel-Anfällen. Du hast Dich also abgekapselt von den meisten Kommunikationsmitteln, stellst aber vieles ins öffentliche Internet, auch vieles sehr Private - passt das eigentlich zusammen? Also, was mich betrifft, so bin ich für die moderne Zeit nicht geeignet, für mich ist immer noch das Telefon die allergenialste Erfindung. Bernd zitiert gerade Alexander Pope, Essay on Man: KnOw then thyyself, presume not God to scan, / the proper study of mankind is man. Im Großen Brockhaus erfährt man auch allerlei, etwa dass Chronos in der Spätantike als bärtiger alter Mann dargestellt wurde (ein früher Weihnachtsmann?) und als solcher in Illustrationen zu Petrarcas "Triumph der Zeit" erschien. Mir scheint, dass in späteren Sagen oder Märchen der Tod seine Rolle übernahm. Ja allerdings, solche Gedanken und Vorstellungen werden sicher im Alter und konkreter. Ist denn ein Medizinstudium kürzer als ein Physikstudium? Oder menschenferner? Sahest Du Dich ursprünglich als Physiker und wechseltest aus liebespraktischen Gründen zur Medizin? Und eigentlich wolltest Du doch Literaturwissenschaftler werden, oder habe ich da etwas missverstanden? Du hast ja so viele Begabungen, Du hättest alles machen können und musstest Dich entscheiden, aus lebenspraktischen Gründen beschränken. War das nicht manchmal schmerzlich? Draußen singen schon etliche Vögel. Dazwischen gibt es heftige Hagelschauer, und gestern Abend, als ich zu meinem Pilates-Kurs fuhr, schneite es aus Leibeskräften, und plötzlich gab es einen mächtig hellen Blitz. Aber von wirklichem Winter noch immer keine Spur. Unser Schneeräum-Mann hat uns gekündigt (niemand möchte so früh aufstehen), daraufhim hat Bernd eine Schneefräse gekauft, und seitdem betrachten wir Schneeflocken mit gemischten Gefühlen. Wo wir doch eigentlich Schnee so mögen! Eins unserer Lieblings-Weihnachtslieder ist "Leise rieselt der Schnee". Allein diese erste Zeile! Seit 14 Tagen sind wir Pflegeeltern eines freundlichen 10-kg-Hundes, da die Besitzer, Freunde aus der Nachbarschaft, bis 1.März in Mexiko sind. HAbe ich das schon geschrieben? Ich fühle mich an alte Zeiten erinnert, als mir meine Patentante einen 4 Wochen jungen Rauhhaardackel schenkte, Schnipp (nach dem Roman von Svend Fleuron, Schnipp Fidelius Adelzahn), den wir alle sehr liebten. Dieses Tier heißt Wanda, ist sehr liebenswürdig und leicht lenkbar, nimmt an Temperament zu, entdeckt immer mehr ihre Jagdinstinkte und bohrt mit großem Ernst in einigen der vielen Mauselöchern, die unsere Wege begleiten. Ansonsten: viele Vögel im Garten, heute Morgen mehrmals ein Kernbeißer, eine seltene Erscheinung. Schneeglöckchen und Krokusse blühen, Christrosen auch, und man wird schon etwas übermütig von Frühlingshoffnungen durchweht. Bernds Kammerorchester gab letzten Sonntag ein Konzert mit Barockmusik, die ein befreundeter Musiker letztes Jahr in der Klosterbibliothek in Assisi entdeckt hatte. Sehr abwechslungsreich, lieblich bis beinahe mozartisch, dazu mehrere Chorstücke, die mich immer am meisten begeistern. Bernd kocht Rosenkohl. Wanda muss mit ihrer 2.Mahlzeit bis heute Abend warten. Gerade beglückt uns ein Sonnenstrahl. Vielleicht genießt Du auch gerade ein bisschen Sonne? Lauter Gutes wünschen Dir Deine Gertraud und Bernd.